Im Sommer 1945 lag Deutschland nach dem von ihm begonnenen Zweiten Weltkrieg physisch, seelisch und moralisch in Trümmern. Die Städte waren verwüstet, Millionen Menschen in Europa ermordet, getötet oder an den Folgen des Krieges gestorben. Das Land, das den dunklen Traum der Weltherrschaft geträumt hatte, war in Besatzungszonen aufgeteilt, seine Zukunft höchst ungewiss. Die NS-Herrschaft war beendet und dennoch waren Anmaßung, Verzweiflung, Schuld und Leid bedrängend gegenwärtig.
In dieser Situation schrieb der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider im Sommer 1945, direkt nach Kriegsende eine Reihe von kleineren Texten, in denen er sich mit der geistigen Situation der Zeit auseinandersetzt und nach Wegen der moralischen und seelischen Erneuerung sucht. Es sind bewegende und inspirierende Zeugnisse des Versuchs, redlich Antwort zu geben auf das Geschehene. Sie haben uns auch heute viel zu sagen.
Einen dieser Texte „Die Macht der Friedfertigen“ wollen wir vorstellen und damit der geistigen und geistlichen Haltung Reinhold Schneiders Stimme verleihen. Anlass dazu bietet der 75. Jahrestag des Kriegsendes.
Die Deutsche Kommission Justitia et Pax und die Katholische Akademie in Berlin laden Sie ein, gemeinsam mit Reinhold Schneider innezuhalten und der anwesenden Bedeutung dieses Tages nachzuspüren.
Dr. Jörg Lüer, Deutsche Kommission Justitia et Pax
Dr. Maria-Luise Schneider, Katholische Akademie in Berlin
Mitwirkende am Video:
Lesung: Peter Gößwein
Kamera und Schnitt: Simon Oblescak, onionfilms
Künstlerische Assistenz: Marina Sawall
Berlin, Mai 2020
Die Schrift “Die Macht der Friedfertigen” von Reinhold Schneider erschien am 1. September 1945 im Verlag Herder in Freiburg im Breisgau.
Stimmen zu Reinhold Schneider
„Reinhold Schneider, der vor seinem Gewissen vielleicht ohnmächtigste Dichter, den das 20. Jahrhundert kannte, hat die Ohnmacht des Menschen häufig im Kontrastbild derer gezeichnet, die Macht haben und Macht ausüben. (…) Dieses ‚prophetische Nein‘ hat Schneider immer wieder gesprochen, zur Verfolgung der Juden, zu Hitlers Krieg, aber auch zum Tyrannenmord, den seine Freunde im Widerstand gegen Hitler planten, zur Wiederbewaffnung Deutschlands, zur Atomrüstung, zur Begründung eines ‚gerechten‘ Krieges angesichts von Waffen, die Sieger und Verlierer gemeinsam vor die Vision des Endes der bewohnbaren Welt stellen.“ (aus dem Vorwort von Wolfgang Frühwald zu „Reinhold Schneider. Texte eines radikalen Christen“, Herder 2008, S. 9-34, hier S. 21)
„Er war von Haus aus ein Zögerer und ein Dulder, dem es aufgetragen war, sich einzumischen in die Vita activa, als wäre es wie bei Jeremias, der vor der Aufgabe fliehen wollte mit seinem Ich kann ja nicht reden, Herr und als eines der größten Individuen aufgehoben ist. Und doch hat er – bei seiner Schwermut und Schüchternheit! – seine Stimme erhoben, hatte Wörter wie ‚Frieden‘ und ‚Zukunft‘, in seinem Wortschatz und hat so den anderen jene Hoffnung gegeben, die er für sich gar nicht mehr hatte. Umso größer muss auch unsere Bewunderung für Reinhold Schneider sein, der in die Bundesrepublik der Fünfziger Jahre gesprochen hat, und in einem Abstand von einem halben Jahrhundert bleibt er aus jener Zeit als eine geradezu heroische Erscheinung übrig.“ ((Nachwort von Arnold Stadler, in Reinhold Schneider. Texte eines radikalen Christen“, Herder 2008, S. 352-365, hier S. 362)
„Im sechsten Lebensjahrzehnt leistete Reinhold Schneider die Wandlung, ein moderner Mensch zu werden. Diese Wandlung war für ihn schwer, weil er all das wußte und festhielt, was das moderne Bewußtsein in seiner oberflächlichen Form vergißt, d.h. verdrängt.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker: „Reinhold Schneider in unserer Zeit“, in: C. P. Thiede (Hg.): Über Reinhold Schneider, Frankfurt a. M. 1980, S. 165-182, hier S. 181f.)
Der Intellektuelle ist der Fremde der modernen Gesellschaft, und damit obliegt ihm zugleich deren Kritik als sein Lebensthema. Das Bewußtsein aber, fremd in der Zeit und als Spätling in einem Epochenbruch zu stehen, ist für Reinhold Schneider wesentlich. (…) Gerade seine Fremdheit schenkt ihm auch distanzierte Freiheit der Beobachtung und Kritik.“ (Walter Schmitz: Reinhold Schneider. Ein katholischer Intellektueller im Zeitalter der Weltkriege, in H.-R. Schwab (Hg.): Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Butzon & Bercker 2009, S. 341-359, hier S. 345f.).