Politik und Kultur sind eigensinnige Zonen, stehen aber in einem ständigen Austauschverhältnis. In Europa wird überdeutlich: vollbrachte Integrationsleistungen und die Auflistung mutmaßlich geteilter Werte bedeuten noch lange nicht Anhänglichkeit, Wertschätzung oder Identifikation. Der ehemalige Kommissionspräsident Jaques Delors hatte dies früh erkannt und 1992 formuliert, dem technokratisch erlebten europäischen Projekt müsse „eine Seele gegeben“ werden im Sinne einer tieferen intellektuellen und spirituellen Bedeutung. Das Projekthafte an diesem Wunsch war aber zugleich sein Manko. Was aber, wenn es diese Seele schon lange gibt – auffindbar in den zahllosen literarischen, geistigen, künstlerischen Werke, die die Leidenschaften und Hoffnungen, Brüche und Katastrophen des Kontinents reflektieren? Am Teppich gegenseitiger Wahrnehmung und Anteilnahme wurde und wird gewebt, und ohne ihn wäre auch „Europa“ nicht mehr. Die europäische Litanei ist ein vielstimmiges, oft unfrommes Bittgebet, von anderen gehört und verstanden zu werden.
Michael Stavarič und Nicol Ljubić lesen aus ihren Werken und führen einen Dialog über Europa.
Nicol Ljubić ist 1971 in Zagreb geboren. Er wuchs auf in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland, studierte Politikwissenschaften und absolvierte eine journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule. Er arbeitet als freier Journalist und Schriftsteller in Berlin. Er erhielt u.a. den Theodor-Wolff-Preis und den n-ost-Reportagepreis. Werke u.a.: Europa : Traum und Wirklichkeit – Dokumentation der Europäischen Schriftstellerkonferenz (Mitautor und Herausgeber zus. mit Tilman Spengler, 2014); Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit! Geschichten aus der Heimat (Mitautor und Herausgeber, 2012); Als wäre es Liebe (Roman, 2012); Meeresstille (Roman, 2010); Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde (2006).
Michael Stavarič, geboren 1972 im tschechischen Brno, studierte Bohemistik und Publizistik. Nach dem Studium war er u.a. Sekretär des tschechischen Botschafters, Dissidenten und Schriftstellers Jiří Gruša und übersetzte auch einige seiner Schriften. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Kritiker in Wien. Sein Werk umfasst Gedichte, Romane, Essays und Erzählungen sowie Kinderbücher. Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise, darunter der Adelbert-von-Chamisso-Preis und den Österreichischen Staatspreis für Kinder und Jugendliteratur. Werke u.a.: Der Autor als Sprachwanderer. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung, Bd. 4 (2016); Gotland(Roman, 2017); in an schwoazzn kittl gwicklt (Gedichte 2017); Als der Elsternkönig sein Weiß verlor (Kinderbuch 2017).